Ych Mif - Insel der Ahnen

(fortlaufendes Projekt)

hier geht es zum Teaser für die Multimedia-Reportage: https://vimeo.com/297963038

Es ist ein Leben zwischen uralten Traditionen und den Verlockungen der modernen Welt, zwischen Wünschen und Hoffnungen und der Wirklichkeit: Im Norden von Sachalin lebt ein Großteil der indigenen Volksgruppe der Niwchen. Ihre Ahnen lebten als Jäger und Sammler unter widrigen Lebensbedingungen auf der größten Insel in Russlands Fern Ost. Heute kämpfen die Niwchen für den Erhalt ihrer Kultur und gegen staatliche Repressionen und Umweltverschmutzungen, die von Ölkonzernen verursacht werden. Denn bald könnte es sie nicht mehr geben.

„Die Fischerei ist unsere Nahrung, unser Leben. Ohne Fisch, ohne das Meer, ohne Fischen möchte ich nicht sein“, sagt Ruslan Njawan. Schon seinen Ahnen und Urahnen und Generation um Generation davor waren Fischer. Niwchen. Ein kleines, indigenes Volk, von dem weltweit schätzungsweise noch 3.200 Menschen leben. Schon vor 12.000 Jahren siedelten sie auf Sachalin, Russlands größter Insel, weit im Osten gelegen. „Ych mif“, nannten sie das Gebiet. „Am Rande der Welt“ heißt Sachalin auf Niwchisch. „Insel der Ahnen“, sagen die Menschen heute.

In Nekrasowka lebt heute die größte Gruppe der Niwchen. Auch Ruslan mit seiner Familie und seine beiden Brüder Michail und Alexander. Knapp 1.000 Einwohner sollen im Dorf leben, 700 davon sollen Niwchen sein. Das Dorf ist auf der einen Seite umgeben von Wald, die andere Seite wird durch die Küste der Pomr-Bucht des Ochotskischen Meeres umschlossen. Unbefestigte Straßen verbinden die versprengt liegenden Holzhäuser und dreistöckigen Plattenbauten, die allesamt bessere Tage gesehen haben müssen. Fünf kleine Läden gibt es, einen Kulturklub, eine Internatsschule, eine aufgegebene Kolchose und ein Jugendhaus, dessen stagnierender Bau vor fünf Jahren begonnen hat. Medizinische Einrichtungen gibt es inzwischen keine mehr.

Ruslan, 49, und die anderen Männer in seinem Alter erzählen gerne und mit Stolz von den Traditionen der Niwchen und der alten Lebensweise: vom mythischen Fest des Bären, von der Fütterung des Meeres, von der Jagd nach Robben, von Fahrten mit dem Hundeschlittengespann durch winterliche Landschaften und von den speziellen Gerichten, deren Rezepte nur ihr Volk kennt, vom einzigartigen Klang der Lieder. Doch die Kultur der Niwchen verblasst. Hundeschlitten wie die Niwchen sie bis vor einigen Jahrzehnten noch nutzten hat in Nekrasowka niemand mehr. Heute fahren sie mit Geländewagen an der Küste entlang und transportieren damit ihre Boote. Im Winter knattern die Schneemobile durch die schmalen Waldwege und über das gefrorene Meer. Die uralten Feste sind zur Folklore verkommen. Längst sind sie keine Halbnomaden mehr, sondern leben sesshaft. Und ihre Sprache, das Niwchische, beherrschen nur noch wenige Greise. Sterben sie, stirbt auch ihre Muttersprache und der Klang der Lieder verschwindet für immer.

Im Rahmen einer „Scrollytelling“ Web-Dokumentation arbeiten wir, Philipp Hannappel und Timo Jaworr, seit 2016 an diesem Thema. Was ist Heimat? Warum lädt man sich so viele Bürden auf, um sie zu verteidigen? Und wieso trägt es uns immer wieder zu ihr zurück? Die Welt ist so vernetzt wie noch nie. Doch selbst in einem Land wie Deutschland leben und sterben nach wie vor über 85 Prozent der Leute dort, wo sie geboren wurden. Weil Heimat sie an etwas erinnert, von dem sie sich nur schwer lossagen können. Hier zählen Impulse, die tief in das Herz des Menschen reichen.